Stürmische Zeiten

Warum Michael Erles Öko-Dystopie "Sturm über dem Rheintal" auch ohne Nervenkitzel eine echte Perle ist

Sechzig Jahre in der Zukunft hat sich das Gesicht der Welt dramatisch gewandelt: Ein stabiles Sturmsystem hat große Teile der Erde verwüstet und die Menschheit zu einer bedrohten Art gemacht. In diesem Setting spielt Michael Erles Roman - und nähert sich dem Thema auf verblüffend unspektakuläre Weise. Es gibt kein totalitäres Herrschaftssystem, unter dessen Willkür die Menschen leiden, keine hollywoodtauglichen Zerstörungsorgien, keine actiongeladene Handlung. Und trotzdem, oder gerade deswegen, habe ich mich in diesem Buch sehr wohlgefühlt.

Die 14jährige Etienne (ja, das ist ein Jungenname, und das weiß sie auch) führt das beinahe normale Leben eines Teenagers - wären da nicht der Arbeitsdienst für das Gemeinwohl, die Angst vor dem Nanokrebs, die Regeln, die der Sturm den Menschen aufgezwungen hat und deren Nichtein-haltung den Tod bedeuten kann, und das frühe Erwachsenwerden, das Verantwortung und allgegenwärtige Gefahr mit sich bringen.

 

Auch wenn der eigentliche Sturm, ein menschen-gemachter kleiner Bruder des Großen Roten Flecks, tausende Kilometer entfernt um den Äquator rotiert, sind seine Ausläufer immer noch so verheerend, dass sie den Menschen beiderseits des Oberrheins einiges an Erfindungsreichtum und Disziplin abverlangen. Trotz der Ressourcenknappheit versorgt Etiennes Gemeinde zahlreiche Afrikaner, die der Hölle ihres unbewohnbar gewordenen Kontinents entronnen sind. Doch es gibt auch Menschen, für die der Sturm eine religiöse Offenbarung ist. Als einer von ihnen einen Anschlag auf das Flüchtlingsheim verübt, gerät Etienne ebenfalls in Lebensgefahr.

 

Michael Erle erzählt eine bedächtige, weitgehend unspektakuläre Geschichte im Schatten einer globalen Katastrophe, gegen die „The Day After Tomorrow“ ein laues Lüftchen ist. Dabei gelingt es ihm, sich tief in seine Protagonistin hineinzuversetzen und das Leben mit dem Sturm als ganz alltäglich darzustellen, ohne der Versuchung zu erliegen, dystopische Schreckensszenarien auszuwalzen. Für Etienne ist das Erwachsenwerden das eigentliche Abenteuer, die wackelige platonische „Ehe“ mit ihrem Freund Kagi und das Projekt, einen im Sturm beschädigten Funknetzknoten zu reparieren.

 

Der Autor findet die passende Sprache für seine Heldin; er lässt konsequent eine manchmal naive, manchmal erschreckend abgebrühte junge Frau erzählen, die ihren Platz in der Welt der Erwachsenen sucht, ihre Jugend aber noch nicht loslassen will.

 

Hin und wieder drängt sich Michael Erles eigene, wunderbar treffsichere und melodische Erzählstimme in den Vordergrund, und beinahe möchte man bedauern, dass er sich zugunsten der Glaubwürdigkeit seiner Protagonistin zügeln muss, sie einzusetzen. Sein Gespür für das Kleine im Großen, für das Normale im Extremen und für die Natürlichkeit seiner Welt und seiner Charaktere machen „Sturm über dem Rheintal“ zu einem Edelstein unter den Kleinverlagspublikationen.

 

Und wer den Untertitel „Die Erbin des Windes“ für ein reißerisches Aushängeschild hält, sollte den Roman erst einmal zu Ende lesen - Ich fand ihn nach anfänglicher Skepsis nämlich ganz zutreffend.

 

Zum Roman gibt es übrigens eine nette Youtube-Lesung von Tinker.

 

"Sturm über dem Rheintal - Die Erbin des Windes" (ISBN 978-3946348092) ist im Erdidanus-Verlag erschienen und dort im Shop oder bei Amazon erhältlich.