Ein Gesicht in der menge

Über die Flüchtlingskrise (ich mag das Wort kaum noch hören) hat inzwischen so gut wie jeder seine Meinung kundgetan. Ich wollte es nicht. Aber sie ist in meinem Alltag so present, dass sich mit der Zeit einiges an Gedanken angestaut hat.

Ich lebe in der Gemeinde Friedland in Niedersachsen. Dort befindet sich das bundesweit bekannte und von Politikern gern besuchte Erstaufnahmelager, das dieser Tage fast schon symbolisch für die Probleme steht, die mit der Unterbringung und Versorgung großer Menschenmengen einhergeht. Die Kapazität des Lagers liegt bei 750 Plätzen, tatsächlich fasst es momentan mehr als die viermal so viele Flüchtlinge. Diese bilden keine homogene Gruppe, sondern kommen aus unterschiedlichen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen. Sie haben kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie müssen lange für ihr Essen anstehen. Viele von ihnen schlafen in den Korridoren, weil die regulären Unterkünfte längst überfüllt sind. Privatsphäre haben sie seit Beginn ihrer Flucht nicht mehr erlebt.

Ihre Zukunft ist ungewiss. Sie sind froh, es nach Deutschland geschafft zu haben, aber wie es weitergehen soll, kann ihnen niemand verbindlich sagen.

Es kommt zu Spannungen. Die Polizei muss immer öfter eingreifen, um für Ruhe zu sorgen. Und schon erheben diejenigen ihre Stimme, die es schon immer gewusst haben:

"Die Flüchtlinge sind gewalttätig. Die Flüchtlinge sind unwillig, sich zu integrieren. Überall hinterlassen sie ihren Müll. Sie schlafen bis mittags und machen bis nachts um zwei Lärm. Ich habe ja gar nichts gegen Flüchtlinge, aber  ..."

Ich brauche nicht einmal die dumpfen Posts bei facebook lesen - diese Äußerungen höre ich beim Einkaufen, auf der Straße, im Gespräch mit meinem Kunden. Und obwohl mir jedesmal der Hals schwillt, kann ich sogar verstehen, warum diese Leute genug haben. Denn die gesellschaftliche und logistische Bewältigung dieser "Krise" funktioniert schlecht. Es ist keine Verbesserung der Lage in Sicht, nur immer neue Probleme. Und über diese wird scheinbar lieber gestritten, statt sie in einer gemeinsamen Anstrengung zu lösen.

Ich möchte eine Gegenthese aufstellen: Deutschland bewältigt diese Krise oberflächlich gesehen vielleicht schlecht - aber eben doch so gut es geht. Wir werden an den Flüchtlingsströmen nicht zerbrechen. Wir werden an der Aufgabe wachsen.

Bevor wir zur Normalität zurückkehren, wird noch einige Zeit vergehen. Bis dahin wünsche ich mir, dass jeder, dem die Situation Angst macht, einmal versucht, sich in den Alltag eines Flüchtlings zu versetzen. Stellen Sie sich die Enge in den Unterkünften vor! Das Gefühl, sein Leben nicht mehr bestimmen zu können, sondern von anderen abhängig zu sein. Das Trauma von Krieg und Flucht.

Und wenn Sie das nicht können: Sehen Sie wenigstens den Menschen, nicht den Flüchtling. Denn "der Flüchtling" ist längst kein Individuum mehr, sondern eine Kategorie. Eine Massenbezeichnung. Hundert oder tausend Flüchtlinge? Gibt es da noch einen Unterschied?

Überlegen Sie mal, warum ein an den Strand gespültes Kind Sie mehr anrührt als siebenhundert Ertrunkene, unter denen sich auch etliche Kinder befunden haben.

Weil Sie ein Gesicht inmitten der gesichtslosen Menge gesehen haben. Und jedes Gesicht erzählt eine Geschichte.

Dafür müssen Sie kein Autor sein.

Nur ein Mensch.

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Kommentare: 1
  • #1

    Nina Holst (Sonntag, 18 Oktober 2015 19:56)

    Danke,Thomas.
    Das sind mal sachliche -und gleichzeitig -herzliche Worte.Schreib weiter.Nicht "nur" Phantasie ;-)
    Nina